– Otto Siller: Manuskript über die „Waldkuralpe Nervenheil“ (1926) –

„Alles was hier oben lebt und webt hat er warm ins Herz geschlossen und wird es nie und nimmer vergessen können“, so schreibt Otto Siller (1879-1952) über sich selbst  in einer 1926 verfassten Abhandlung über die Waldkuralpe Nervenheil. Sensibel, liebevoll  und  genau schildert der Autor  den Jahresablauf auf der Anhöhe über dem Wertachtal und beschreibt Stimmungen und Landschaft,  Wirtsleute und Sommergäste.  Otto Siller verlor als Achtjähriger bei einem Unfall den linken Arm. Er war Verwaltungsbeamter, ledig und wohnte in der Augsburger Straße in Pfersee. Er verbrachte, so schreibt er „fast jeden Sonn- und Feiertag des ganzen Jahres“ in seinem über alles geliebten Nervenheil. Der in gestochener Sütterlinschrift erstellte Bericht, in etwas weitschweifiger und betulicher Diktion, beschwört ein Idyll. Verklärend und idealisierend zwar, macht er doch für mich das verschwundene „Nervenheil“ lebendig. (Mein Dank gilt Herrn Jörg Klinger, der den Text „transkribiert“ und Bilder zur Verfügung gestellt hat).
  1. Natur und Jahreszeiten
  2. Die Wirtsleute
  3. Die Kinder und das Gesinde
  4. Sommerfrischler und andere Gäste
  5. Otto Siller über sich selbst

Natur und Jahreszeiten

Bevor ich von dem Leben und Treiben, das dort oben das ganze Jahr über herrscht erzähle, will ich ein klein wenig bei einer Naturschilderung verweilen.  Oben, auf weithinblickender Höhe, am Rande der Wertachebene gelegen, hat man einen wundervollen Blick in die Lande, hinauf bis zu den blauen Gebirgsketten im Süden und nordwärts bis jenseits der Donau zu den Höhen des schwäbischen Jura. Im Sommer sitzt man da heraußen und genießt den schönen Anblick bis es allmählich anhebt, dunkler und dunkler zu werden, bis Stern um Stern aufblitzt und eine weihevolle Stille über dem Dörfchen unten und dem ganzen Lande liegt und ungern scheidet man oft spät um 11 Uhr, 12 Uhr, um 1 Uhr, ja bisweilen noch später, von diesem Fleckchen und es ist auch schon vorgekommen, dass im Osten eine fahle Blässe den neuen Tag kündete, als man oben herabstieg.
Ja eigenartig schön ist ´s oben an heißen Sommertagen, wenn draußen die Luft kocht, hier im Schatten zu sitzen bei einem Glas Bier und hinauszublicken in sommerlich sonniges Land.  Ganz anders ist das Bild wieder im Winter, wo alles fest zugefroren, wo der Schnee Berg und Tal bedeckt, wo nur die Raben als einzige lebende Wesen etwas Leben in die winterliche Einförmigkeit bringen und die Schneefelder beleben. Dann sitzt es sich aber nicht weniger gemütlich in der wohldurchwärmten Bauernstube, wenn ´s im Ofen lustig knistert. Dann kann man auch mit aller Ruhe herausblicken in den Schneesturm und in die graue Winterzeit und man sinnt auf Lenz und Sommer, auf schöne sonnige Tage. Diese Zeit ist aber durchaus nicht leer an Romantik und sie wird verschönt durch eines unserer schönsten Feste, das Weihnachtsfest, wo im Lichterglanz der Christbaum erstrahlt. Wenn dann so über Nacht, ganz still und leise, der Winter übers ganze Gebiet seine Schneedecke gebreitet, wenn bisweilen auch der Rauhreif Blüten eigener Art auf die kahlen Bäume zaubert, wenn dann in all diese winterliche Pracht die Sonne scheint; oh da ist ´s wie in einem Feenschloss, da flimmert’s  und schimmert’s, dass es nur so eine Art hat, als wenn ihre Strahlen Diamanten und köstlich Geschmeide träfen. Dazu erfreut uns reine, schöne, köstlich frische Waldluft.
Schifahrer (1932)
Schifahrer (1932)
Dann aber kommen aus der nahen Stadt die Wintersportler und Sportlerinnen angerückt mit Rodelschlitten und Schneeschuhen und ein geschäftiges Leben herrscht dann in Nervenheil und könnte man sich in sonnige Sommersonntage versetzt denken, wenn nicht Schnee und Eis überall liegen würden. Welch abwechslungsreiche Bilder ziehen da am Zuschauer vorüber, wenn Rodel um Rodel in rascher Folge sausend zu Tal fährt, oder wenn der „Brettelmann“ in eleganter Kurve am Schluss doch noch vom Schicksal erreicht, zu Boden fällt; da herrscht Lachen und Frohsinn und erst wenn die Nacht sich herabsenkt, dann ziehen die Menschen heimwärts, müde wohl, aber mit frohem Lächeln, denn sie haben einige frohe Stunden draußen verleben können.
Es wird lauer, der Tag länger und endlich zieht der Winter ab, um den Frühling Platz zu machen. Überall rinnen die Wasser hinab ins Tal und machen die Wege fast ungangbar auf einige Zeit. Unsere Singvögel rücken nach und nach an, Veilchen blühen um Nervenheil herum, kurz es ist mit all seiner Schönheit über saftig grüne Wiesen, über frisch umgebrochene Äcker, der Frühling eingezogen. Und da feiern wir wieder ein Fest, das liebe Osterfest. Und wieder ergreift Wanderlust die Augsburger und sie ziehen hinaus in all die Frühlingspracht, in all den Frühlingssonnenschein und steigen hinauf nach Nervenheil, um sich dort für des Leibes Hunger und Durst, die sich beim Wandern eingestellt, was die Wirtschaft bietet, vorsetzen zulassen.
Der Herbst ist angerückt. So kalt scheint bisweilen die Sonne, Kartoffelfeuer schwelen und verbreiten den eigenartigen Herbstgeruch, der Vogelsang ist eingestellt. Feuchte Nebel kriechen aus dem Tal herauf, oder sie legen sich, vom Walde kommend, ins Tal hinaus, still und stiller ist es geworden. In Nervenheil ist jetzt Tag um Tag das Vieh draußen auf der Weide solange es noch geht. Da eines schönen Tages, der Wind hatte recht kalt geweht, bleigrauer Himmel war schon Tage lang über der Gegend gelegen, da wirbeln die ersten Schneeflocken hernieder und rasch hängt man nun in Nervenheil die Winterfenster ein, macht ein Feuerlein in den Ofen und gedenkt mit Sehnsucht des kommenden Frühlings und Sommers. Aber auch der Herbst ist nicht ohne Reize für den, der sie zu finden weiß.
Kurzum jede Jahreszeit hat ihre Schönheiten und Freuden, doch am allerschönsten sind die Morgen und Abende, die hier verlebt werden können, wenn man hinaustritt, alles noch still, der Tau in jedem Grashalm hängend und würzige Luft aus Wald und Feld dich umschmeichelt, oder abends, wenn mählings die Sonne heruntersinkt im Westen und durch die Bäume beim Abschiednehmen ein überirdisches Glasten und Gleißen und Schimmern, wie aus einem Wunderberge geheimnisvoll lugt, wenn die Schatten der Nacht dichter und schwerer werden, wenn alles zur Ruhe gegangen, dann sitzt sich’s so gut hier oben an einem ruhigen Fleck und wohltuend rinnt aus abgehetzten Menschen das Gefühl einer unendlichen Ruhe durch den Körper.  Habe ich bis jetzt die Jahreszeiten hier oben ein wenig beschrieben, so komme ich nun auf die Leute zu sprechen, die hier wohnen, oder auch nur hier aus- und eingehen.

Die Wirtsleute

Die Familie besteht aus Herrn Jettenberger, seiner Frau, 3 Töchtern und einem Buben. Dazu ist noch ein männlicher Dienstbote und eine Magd hier oben, so dass also beim Mittagessen 8 Personen da sind.  Man muss Herrn Sebastian Jettenberger sen. gehört haben, um beurteilen zu können, dass er ein ausgezeichneter Erzähler ist, der alles mit einer Anschaulichkeit und einem Leben schildert, dass die Stunden nur so schwinden, was für ihn ja kein Schaden ist, denn schon mancher, der schon nach der Uhr gesehen und der Wirt erzählt so frisch und nett, hat nochmals ein Glas Bier bestellt und bisweilen ist aus dem einen Glas noch eins und wieder eins geworden und der Geschichten, der wahren wie der verlogenen ist noch kein Ende gewesen.
Eine Geschichte aber und zwar eine wahre Begebenheit erlebte ich selbst an ihm; war er doch in diesem Schauspiel Hauptteilnehmer. Die Sache trug sich folgendermaßen zu. Es ist zu wissen, dass der Gastwirt außer seiner Gastwirtschaft auch noch Landwirtschaft betreibt und derselbe einige Stück Vieh im Stalle stehen hat. Davon war nun eine Kuh trächtig und eines Tages nun, als er sie genau besichtigte und sich gerade bückte, da wiederfuhr der Kuh etwas Menschliches und sie machte Herrn Jettenberger übers Ohr, das halbe Gesicht und über die Achsel hinab und wetternd und schimpfend  (fragt mich nur nicht wie) kam er in die Küche gelaufen und rief: „Frau, wasch mir das Zeug alles weg, das die Kuh, dieser erbärmliche Racker, über mich gemacht hat“. Wir aber mussten lachen über den urkomischen Anblick, den der Herr Gastwirt gegeben. Ein guter Schluck Bier, eine Virginia und seine Ruhe, das geht ihm über alles und sein Grundsatz lautet: „Wenn man nur gesund ist und der Arbeit vertlaufa kann“.  Dabei ist nicht gesagt, dass, wenn es gilt, er auch die Hände regt von früh bis spät. Kommt er, um zum Schluss zu eilen, auf den Krieg, den großen Krieg, zu sprechen, so kann’s schon geschehen, dass er wahre und unwahre Geschichten so kunstgerecht und fein mischt, dass alles dieselben glaubt, ja, dass er sie schließlich selbst glaubt.
Nun kommt die Frau Gastwirtin, eine seelengute Frau, die den größten Teil ihres Lebens in der Küche, am Herdfeuer, zubringt, bald Kaffee, Tee, Kakao, Milch, bald Suppe, Fleisch und Gemüse kochend, dann wieder Backwerk und dergleichen auf ausgezeichnete Weise herzustellen weiß.
Ich vermute stark, dass sie ein klein wenig Römerblut in sich trägt, standen doch einst dort, wo ihre Heimat im Ries, römische Legionäre und hatten reiche Römer damals dort unten schon schöne Landhäuser gebaut.  Ihre dunklen Haare und der Körperbau lassen darauf schließen. Doch zurück zur Gegenwart. Ist sie dann müde, redlich müde von all dem Hantieren bis zum Abend geworden und ist’s dann endlich still und man sitzt traulich beisammen und erzählt oder hat eine weibliche Handarbeit zur Hand genommen, oder auch die Kleider ausgebessert, die Socken gestopft, dann passiert es ihr bisweilen, dass sie von all der Arbeit in der warmen Stube mit dem Schlafe kämpfen muss und manchmal auch einnickt. Heuer war sie zum ersten Male (oft kommt sie ja von ihrem Herd nicht weg) am Ammersee gewesen. Man hatte sie förmlich dazu nötigen müssen, den Ausflug mitzumachen und aufs Schiff wollte sie absolut nicht. Doch als man sie dann links und rechts unter den Armen genommen, da ging sie in voller Todesverachtung auf den Dampfer und verlor alle Furcht als sie sah, welch schönes ruhiges Fahren auf solch einem Dampfer es war und als sie heimkam, da hatte ihr auch diese Fahrt recht gut gefallen. Dass sie eine herzensgute Frau ist, weiß der, der diese Zeilen schreibt am besten und dazu so freigebig und kein Bettler oder Armer geht fort von ihrer Tür, ohne ein Almosen, ja bisweilen, wie an kalten Wintertagen, bekommt er noch einen Teller gute Suppe oder dergleichen. Doch sie kann auch manchmal böse werden, wenn sie den Streit, der in ihrer Kinderschar ausgebrochen, zu schlichten hat. 

Die Kinder und das Gesinde

Nun aber zu Frl. Peppi Jettenberger, der ältesten Tochter. Für gewöhnlich wird sie mit dem Namen Peppi gerufen, wenn aber die Frau Mutter etwas recht notwendig braucht und sie schreit Peppo, dann ist’s höchste Eile. Es ist Frl. Peppi ein hübsches, nettes Kind, a „bildsauber’s Deandl“  und du musst schon weit die Lande auf- und abwandern, um solch ein schmuckes Ding wieder zu finden. Sie bedient wochentags die Gäste und ist mit jedermann freundlich und nett und spricht mit jedem einige Worte. Bisweilen sitzt am Abend noch ein einziger Gast hier oben, der nicht von der Stelle weichen will und nun obliegt ihr die leidige Pflicht, obwohl auch sie sich nach Schlaf sehnt, ihn zu unterhalten und da kommt es dann schon vor, dass sie sich ein Loch in den Bauch hineinschwätzen muss. So sie einmal heiratet, darf der Zukünftige kein Gastwirt sein, denn sie möchte durchaus keinen solchen haben, lieber ginge sie ins Kloster !! Nun ja, das wird sie allerdings nicht tun und die Verhältnisse werden die Sache schon in Gang bringen. Da fällt mir noch ein, dass sie vom Vater das Fabulieren und Erzählen gelernt und hübsch ist’s, so man ihr lauschen darf wenn sie Stückchen ihrer Kindheit erzählt.  Was die Frjthjofsage von Ingeborg erzählt, das passt auf sie.

Otto Siller (1927)
Nun zur zweitältesten Tochter Maja, so wird sie meist gerufen, was Maria bedeutet. Sie ist ebenfalls ein hübsches Mädchen und hat herrliche Pfropfenzieherlocken, kurzum etwas gekraustes Haar und eben dieser Haare wegen wird sie von den anderen Geschwistern manchmal geneckt und sie sagen dann zu ihr „krause Haare, krauser Sinn“. Sie geht heuer in die Stadt in die Arbeitsschule bei St. Ursula und recht gerne ist sie dort. Gibt ´s  aber am Sonntag recht viel Gäste, dann ist sie emsig bei der Arbeit und hilft bald da und bald dort und kommt in ihrem weißen Schürzchen so nett und sauber, wie aus dem Ei geschält, daher.
Zitta heißt die jüngste Tochter. Sie besucht noch die letzte Klasse der Volksschule in Leitershofen, kann infolgedessen nicht viel mithelfen im wirtschaftlichen Leben, doch am Samstag Nachmittag reinigt sie mit den anderen Geschwistern die Bestecke und manche Rede und Gegenrede fliegt hinüber und herüber, bald lustig und froh, bald neckisch und ernst, bis sie sich schließlich bisweilen „zerkriegen“ und der Vater oder die Mutter einschreiten müssen, und deren Hand dann ein gewichtiges Wort sprechen. Doch das sind Kleinigkeiten und wo Geschwister sind, gibt ´s Streit. Kommt aber ein Gegner von außen, dann stehen sie da gleich einer geschlossenen Phalanx, gegen die nicht aufzukommen ist. Sie ist die Stillste von allen, ein bisschen träumerisch veranlagt und ebenfalls wieder ein hübsches nettes Kind.
Den Schluss bildet Sebastian Jettenberger jun. seines Vaters herabgerissenes Ebenbild in jeder Hinsicht, der Liebling und Augapfel der Mutter und auch der Schwestern, kurz der liebe „Bästi“. Seit Mai besucht er die erste Volksschulklasse im Dorfe unten und es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, den immer beweglichen Burschen so einige Stunden lang Tag für Tag ruhig sitzen zu lehren. Im Sommer ist er ein waghalsiger Radfahrer; seine Füße reichen noch nicht vom Sattel bis zu den Pedalen, deshalb hängt er stehend im Fahrrad und macht damit die schwierigsten Manöver und im Winter, da meistert er die Schneeschuhe. So klein der Knirps noch ist, so fährt er doch schon wie ein Alter dahin, bald rechts, bald links, abbiegend, bisweilen allerdings, wenn er es gar zu toll treibt, dann wirft ´s ihn auch hinein in den Schnee, doch das schadet einen Seb. Jettenberger jun. nichts, man steht auf, schüttelt den Schnee aus den Kleidern und dahin geht ´s wieder weiter und erst, wenn der Hunger sich einstellt, dann kommt er zur Mutter.  Kommt er aus der Schule heim ist oft seine größte Freude den sogenannten Dutzel oder Ditzel, wie in den kleinsten Kinderjahren, in den Mund zu stecken. Manchmal bringt er auch Schulkameraden mit herauf und da bittet er dann Vater oder Mutter, dass er denselben etwas zu essen oder zu trinken geben darf; freigebig und nicht geizig ist der kleine Mann, das muss man sagen.
Nun ist noch ein Knecht namens Hiesl und eine Magd mit Namen Lina da, die beide ruhig und still ihre Arbeit vollbringen und ganz zum Schluss kommen noch Bewohner Nervenheils, das sind der große Lion und der kleine Spitz, beides Hunde. Der große ist ein Freund vom Wasser, springt er doch ohne dazu angehalten zu werden, wenn man an den Weihern vorbeikommt und er dabei ist, sofort hinein, das gerade Gegenteil ist der kleine, denn er meidet das Wasser gleich gebrannten Kindern das Feuer. Ihn muss man mit Gewalt hineinwerfen und kommt er heraus, so bringen ihn keine zehn Joch Ochsen mehr hinein und er läuft allen davon, wenn sie sich ihm nähern, schimpft oder eigentlich bellt dafür entsetzlich.
An späten Herbsttagen nun, wenn des Tages Arbeit geschehen, wenn die Dämmerung leise geschlichen kommt, und man das Licht brennen muss, dann versammeln sich alle in der gemütlich warmen Wirtsstube und auf kurze Zeit herrscht dann ein gemütliches Familienleben, bis der Teufel gerade einen Fremden hereinschneit und der Traum gemächlicher Ruhe für diesen Abend ist dann aus. Da muss man dann, wie ich schon weiter vorne erwähnt,  vor den einschichtigen Gast hinsitzen und mit ihm sprechen und ihn unterhalten bis, na bis man sich eben ein Loch in den Bauch geschwätzt hat. Aber so ist nun einmal das Leben in einer Gastwirtschaft. Dafür kann man sich dann wieder einmal frei machen, wo andere Sterbliche Tag für Tag weiter arbeiten müssen, ob´s nun schön oder verlockend zum Spazierengehen ist, oder ob´s schneit und stürmt.
Jetzt habe ich alle Glieder der Wirtschaftsführung beschrieben und komme nun auf die Gäste zu sprechen die während eines ganzen Jahres, bald auf kürzere bald auf längere Zeit, hier gehaust haben oder auch nur eingekehrt sind.
Lange lag dieses Jahr der Schnee in den Mulden und gar nicht verschwinden wollte er und Herr Jettenberger sagte: „Solange noch die Schneekatzen dort liegen“,  und zeigte in die Vertiefungen hinüber, „so lange bekommen wir keinen Frühling und Sommer“. Nun war er aber doch gekommen und schon warm strahlte Frau Sonne herab vom Himmelsbogen. Mild wehten die Lüfte. Der Geruch der Ackerscholle entstieg dem braunen Erdreich, mit Blumen schmückten sich die Wiesen, der Vöglein fröhlicher Gesang erscholl am frühen Morgen und hörte erst auf wenn die Dämmerung sachte, sachte aus dem Wald geschlichen kam.

Sommerfrischler und andere Gäste

Da stieg an einem schönen Frühlingstag eine aus drei Köpfen bestehende Gesellschaft nach Nervenheil hinauf, um dort mehrere Wochen dem „dolce far niente“ des Italieners oder unserem „süßen Nichtstun“ zu huldigen. Es waren Herr Straßenbahndirektor Mörder aus Augsburg mit Hochdero Frau Gemahlin, sowie dem ungefähr 11 jährigen Sohne. Verkehrt habe ich mit ihnen nicht viel; ab und zu traf man sich im Wald, unterhielt sich auch bisweilen dann mit ihnen, ebenso beim Mittagstisch, somit gingen die Wege meist getrennt. Der Herr Direktor ist ein netter äußerst liebenswürdiger, sehr freundlicher und bescheidener Herr. Seine Frau Gemahlin, eine Preußin, besaß dafür umso mehr Stolz und ein Herr sagte mir mit bedeutsamen Augenzwinkern:„Da hat die Frau die Hosen an“, Ich glaube fast auch. Wer sie verstand und auf ihre Ideen einging, konnte mit ihr gut auskommen. Auf die kleinen Leute war sie allerdings nie gut zu sprechen, das war für sie alles ein großer Lumpenpack. Vater und Sohn sahen recht blass aus, als sie kamen und auch sie selbst nicht übermäßig gut. Sie ist eine große kräftige Figur und hatte ihre Eigenheiten, denen auch die Wirtsleute Rechnung tragen mussten, so, um nur eine zu erwähnen, musste der Kopfsalat immer mit Zitronensaft angemacht werden, es durfte kein Tropfen Essig dazu benützt werden, denn Essig sagte sie, zerstöre das Blut. Mit ihren blassen Gesichtern dürften sie ja nicht Propaganda für Zitronensaft machen, denn da glaubt’s niemand.  Auch darauf war sie recht bedacht, dass man sie mit dem richtigen Titel ansprach. Dieses Kleeblatt war meist für sich und an Nachmittagen war ihre Lieblingsbeschäftigung am Waldrand vielleicht 10 Minuten entfernt in Hängematten zu liegen, zu lesen und zu schlafen. Endlich schlug auch ihnen die Abschiedsstunde und sie kehrten wieder zurück in die Stadt.

(1926)
An einem schönen Maientag war’s. Da kam mit einem Auto eine fröhliche Gesellschaft den Berg heraufgefahren. Schon von ferne hörte man Kinderstimmen und frohes, heiteres Lachen, und als das Auto endlich hielt was kam da alles heraus aus der Tiefe: Zuerst entstieg demselben eine feine Dame. Frau Bierbrauereibesitzer Kuhnle aus Augsburg, dann kam Frl. Maria,  das Kinderfräulein und nun kam die kleine Ware. An der Spitze die 5 jährige Lore, dann ihr Brüderchen Hans, der bei 4 Jahre zählte und endlich der Drolligste von ihnen, der Maxi, der in noch nicht sehr weiter Ferne das Laufen gelernt hatte.  Diese Gesellschaft hielt sich am allerlängsten rund vier Monate hier oben auf und sah manch andern kommen und gehen. Und gerade dieser Gesellschaft muss ich ein ganz besonderes Kapitel weihen, denn mit diesen Leutchen, die so freundlich und gemütlich waren, habe ich manch Stündchen verlebt und verplaudert.  Da ist vor allem die freundliche, immer heitere, mütterliche Gestalt von Frau Kuhnle, um die sich alles dreht, gleichwie um eine Sonne.  Sie ist das gerade Gegenteil von der oben angeführten Frau Direktor Mörder, kennt sie doch keinen Stolz und ist freundlich und liebenswürdig gegen Hoch und Nieder, was ihr auch die Herzen aller rasch gewinnen macht; nichts desto weniger behält sie für sich eine gewisse Sphäre Abstand, den auch trotz aller Freundlichkeit niemand zu durchbrechen wagt. Nie kommt sie aus der Stadt, ohne ihren Kindern irgend etwas mitgebracht zu haben. Bald sind es Spielsachen, bald hübsche Bilderbücher, bald Näschereien und ist ein anderes Kind in der Nähe, erhält es immer auch etwas davon, ein Zeichen eines mitfühlenden Herzens. Frl. Maria, das Kinderfräulein, ist aus Württemberg und Frau Kuhnle hätte kein besseres Mädchen bekommen können zur Beaufsichtigung ihrer Kinder als gerade sie. Die Kinder hängen voll Liebe an ihr, obwohl sie manchmal sehr handgreiflich werden muss um zuweilen einen kleinen Eigensinn, der übrigens sehr gut erzogenen Kinder, zu bändigen. Dass die Kinder alle, und besonders der kleine Max, ihre Maja sehr lieben beweist der Umstand, dass er, wenn Mama wieder fortgeht, ziemlich still ist, wenn aber seine Maja geht, dann lässt er sich kaum trösten. In der Früh bekommt er seine „Ille“ aus der Kindersprache Milch bedeutend und wenn ich mir eine Virginia anbrenne und er ist gerade da, so sagte er so drollig: „Herr Siller raucht  Benzinra !“. Sie sitzen aber alle so ruhig und still da, wenn Maja sagt, ich will erzählen und vorlesen von den sieben Raben, vom bösen Wolf, vom Rotkäppchen oder gar von Hans Wundersam, dann glänzten ihre Äuglein voll Freude und wenn du, der du groß und erwachsen bist, hineinschaust, so leuchtet dir ein unbegrenztes Vertrauen entgegen, ein Vertrauen an den Märchenglauben und du siehst das Märchen selbst zur Wahrheit geworden, siehst die schöne blaue Wunderblume die nur heitere Sonnenkinder sehen dürfen. Die Kinder haben eine Tante, namens Auguste Kuhnle, die Klavierlehrerin ist und des Öfteren herauskommt nach Nervenheil um sie zu besuchen. Da sollten sie sehen, wenn da die Tante den Berg heraufsteigt und die Kinder werden ihr gewahr, wie’s da an ein ganz entsetzliches Freuden- und Indianergeheul geht und wie sie auf die liebe Tante Auguste zustürzen und sich an sie hängen. Es ist aber auch ein recht braves liebes Fräulein, diese Tante Auguste, die es trefflich versteht, mit Kindern umzugehen und die ein Herz hat, gleich dem Hans Wundersam in ihren Märchenbüchern. 

Es war im Mai auch wieder, als vier bis sechs Tiefbauarbeiter, junge anständige Burschen regelmäßig von ihrer Arbeitsstätte hierher zum Mittagessen kamen. Einmal, es war Freitag, da hatte die Wirtin, wenn ich mich nicht täusche, auf Wunsch dieser Gesellschaft Dampfnudeln in einem riesigen Tiegel gemacht und nun ging’s, wir saßen nebenan, darüber her. Eine um die andere verschwand im Munde der Herren. Bald aber ging’s nimmer, so satt waren sie, obschon sie zuvor die Hosenschnallen weiter geöffnet hatten, alles half nicht mehr und noch waren einige schöne Dampfnudeln da. Weiter unten saßen einige Arbeiter, die arbeitslos waren und zum Stempel gingen und diesen nun schoben sie den Tiegel mit dem Rest der Dampfnudeln zu und bald hatte die letzte Dampfnudel das Zeitliche gesegnet.
Hatte es nun, von Mitte Mai ab, den ganzen Juni hindurch und noch tief in den Juli hinein Tag für Tag geregnet, so dass in den Wiesen das Wasser stand und das Heu verfaulte, so drehte sich doch einmal der Wind und schönes Wetter kam und mit diesem auch die Ferienzeit und nun rückten die Sommerfrischler so nach und nach an.
Da kam zuerst eine Familie Kreuzer, bestehend aus Herrn Kreuzer, Prokurist der Union Zündholz-fabrik, seiner Frau Gemahlin, seinem Sohn Rudi, einem strammen Studenten von St. Stephan, der die 5. Klasse gerade absolviert hatte und der kleinen blondhaarigen Anny, die nun die erste Volks-schulklasse hinter sich hatte; der Augapfel des Vaters, der Liebling der Mutter, kurz das Nest-häkchen, mit welchem Worte alles gesagt ist. Den Schluss machte der alte, liebe Herr Hefele, der Vater von Frau Kreuzer.  Nun will ich versuchen von ihnen ein Bild zu entwerfen, ob’s gelingt, ob nicht, das weiß ich nicht, doch den Versuch will ich wagen. Die schönsten Räume im ersten Stock mit Balkon, umsponnen von wilden Reben, sind ihnen zugewiesen worden nach Osten blickend mit dem Wertachtal und dem Blick über die alte liebe Stadt Augusta. Die Morgensonne weckte sie und abends saß man bisweilen bei einem Haferl Bier auf dem Balkon, wenn draußen die Nacht hereinbrach und Sternlein um Sternlein aufblitzte. Das waren denn schöne geruhsame Stunden, die man nie mehr vergessen wird.
Die Krone der Schöpfung, der Mann, soll zuerst auftreten. Er ist großer Sportsfreund, liebt gerne Kartenspiel und einen guten Trunk; seine Witze sind scharf wie Paprika, er ist großzügig und freigebig, möchte andere nie um eine Freude bringen, ja hat selbst gern seine Freude an der der anderen. Am Abend mit einer Virginia im Mund oder mit seiner Pfeife sieht man ihn jederzeit im Kreise seiner Familie. Wie oft saßen wir da abends auch auf dem Balkon von Nervenheil, wenn alles ringsum schon im Dunkel lag, die Lichter aus der Stadt über das Wertachtal herüberleuchteten und drunten in den nassen Wiesen, von langem Regen, ein fröhliches Froschkonzert anhub. Nur wer’s miterlebt hat, weiß, welch köstliche Stunden diese Stunden der Ruhe nach des Tages, oder besser nach der Monate Hasten, für den Körper das waren. Bisweilen machte man auch Streifen durch den Wald, so zu den Fuchslöchern, wo man auch immer Spuren ihrer bösen Taten (der Füchse nämlich) sehen kann, bald ist ´s ein abgenagtes Hasenskelett, bald ist ´s das Gefieder von zerrissenen Vögeln, dann auch wieder der frische, aus dem Fuchsbau herausgegrabene Sand. Manchmal macht man einen Abstecher nach Wellenburg zu Kaffee und Kuchen.

Von Rudi weiß ich nur, dass er bald da und bald dort auftaucht, denn er hat ja fast alle Bände von Karl May gelesen, dass er jetzt die lateinischen Klassiker wie Plautus, Terenz, Catull, Lukrez, Vergil, Horaz, Tibull, Ovid, Martial, Juvenal und wie sie alle heißen, nur mehr an Regentagen, wenn ihn die Langeweile plagt, herauszieht, dass er statt Mathematik und Algebra jetzt lieber in kühnem Sprung durch dichte Hecken setzt, lieber an einem stillen Lagerfeuer kauert, als physikalische Betrachtungen anstellt, kurz, der hier in der Freiheit ein halber Winnetou geworden, dem nur die Farben zur Bemalung auf den Kriegspfad fehlen. Manchmal bewacht er als Gaucho die Rinderherde des Wirtes. Warten ja seiner doch wieder, wenn er in die Stadt zurückkehrt, die Mühen und Sorgen eines ganzen Studienjahres.

Anny kommt nun daran. Ihr Lebenshimmel ist beständig heiter und darin gleicht sie der Frau Mamma. Sie, die flachshaarige Kleine, hat dicke Freundschaft mit "Bubi", so nennt sie "Basti" jun. den Wirtssohn geschlossen, der um ein Jahr jünger ist sie. Er, das Landkind, zeigt ihr, dem Stadtkind, all die Herrlichkeiten die es hier im Stalle, in Wiese und Feld, zu schauen gibt, die Hühner, die Küken, die Hunde, die Blumen, kurz, was Kinderherzen erfreuen kann. Sie hingegen erzählt ihm von der Stadt, und da lauscht er dann ganz andächtig ihren Worten. Haben sie recht miteinander getollt, dann sagen sie zueinander, ich heirate dich, du heiratest mich und damit basta meint Anny, das kleine energische junge Dämchen.

Frau Kreuzer: Nie habe ich sie weinen gesehen, es sei denn beim Abschied von hier oben, oder sonst einem ernsten Ereignis; sonst steckt ihr der Schalk zutiefst im Wangengrübchenpaar und in den lieben Augen. Geht's wo recht vergnügt zu, dann ist sicher Frau Kreuzer darunter. Wird irgendein Possen gespielt, was gilt´s;  Frau Kreuzer ist die Seele der ganzen Verschwörung. Tausend und abertausend lustige Streiche hat sie auf dem Kerbholz; unermüdlich weiß sie die schnurrigsten Dinge zu erzählen, kurz: wo sie ist, da gibt's nur frohe, lachende Menschenkinder. Welch ein Glück, dass unser lieber Herrgott auch solche sonnige Gestalten in seinen Garten gesetzt hat. Von ihren losen Streichen mag ich nicht erzählen, ich weiß nicht wo anfangen und noch weniger, wo aufhören.
Herr Hefele, ein altes frohes Haus, der, wenn er besser hören würde, genau so Streiche machen würde wie seine Frau Tochter. Ruhelos ist er, denn kaum dass er sitzt, da leidet’s ihn nicht mehr dort, nein hinaus muss er und einen Rundgang machen und das geschieht im Tage mehr als einmal. Er ist’s, der Anny und Rudi immer wieder Süßigkeiten oder sonst eine Freude zukommen lässt. Sie beide sind ihm aber auch recht zugetan, dem lieben, guten Großpapa.

Zwei andere Gestalten treten auf, die das Jahr über in der Hauptstadt Bayerns in München gelebt, es sind Herr und Frau Studienrat Fritton, die den größten Teil ihrer Sommerferien hier oben in Nervenheil verbracht haben, und dies Nervenheil hat ihnen so gefallen, dass sie beim Abschied sagten, die nächsten acht Wochen Ferienzeit werden wir wieder hier oben uns einnisten. Herr Studienrat ist eine große kräftige Gestalt, etwas verschlossen, aber wenn es gilt, da bricht dann oft ein köstlicher Humor hervor, so dass er oft nicht zum Wiedererkennen ist, bei solchen Gelegenheiten. Seine Frau Gemahlin ist eine dunkle Schönheit, gesprächig und sehr freundlich, durchaus nicht stolz und hat für jedermann ein freundlich Wort.

Eine Episode muss ich da einflechten. Also Herr Jettenberger (der Wirt) bekommt ein Schreiben, dass diese beiden am Bahnhof in Augsburg ankommen. Zur festgesetzten Zeit befindet sich auch Herr Jettenberger dort, um sie in Empfang zu nehmen. Das erste Begegnen ist nicht besonders freundlich ausgefallen, denn Herr Studienrat hüllt sich in Ernst und Schweigen und Herr Jettenberger fährt da unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf: " Mei Liaber, mir zwoa send bald mitanander fertig". Doch zum Donnerwetter, die Geschichte ändert sich, und zwar gewaltig. Denn erstens ist er (der Herr Studienrat) wenn er auftaut, ein ganz prächtiges Exemplar von einem Menschen und es lässt sich mit ihm sehr gut reden und mit beiden haben wir andern, so manch gemütliches Stündchen verplaudert, haben mit Frau Studienrat Ball gespielt und Spiele am Abend gemacht und haben bisweilen herumgetollt wie große Kinder und wie gesagt, leid war ´s uns allen, als der Herbst sie wieder hinwegführte nach München. Was aber dem Herrn Studienrat in den Augen des Gastwirts so recht die Gloriole aufs Haupt setzte, was meint ihr wohl, was das gewesen? Nun ja, das war sein Geschick mit dem er Karten spielen konnte und oft saß am Abend ein gemütlicher Kreis beisammen und eifrig ward darauf losgespielt, während die Nichtspieler nebenan mit Gesellschaftsspielen sich unterhielten und allerlei Kurzweil trieben. Herr Fackler, Herr Kreuzer, Herr Oberlehrer Herb sen., Herr Hefele und nicht zusetzt Herr Jettenberger, die spielten oft mit Herrn Studienrat bald Schafkopf, bald Sechsundsechzig.

Noch eines Ereignisses entsinne ich mich: Eines Tages waren Herr und Frau Studienrat Fritton draußen im Wald gewesen, hatten Beeren gepflückt und da hatte Herr Studienrat sich beim Bücken ein großes Loch in die Hose gesprengt  (ein Zeichen, dass durch die vorzügliche Kost der Frau Jettenberger alles zu eng geworden war) das aber weder er selbst, noch seine Frau Gemahlin beachtet hatten, die Familie Kreuzer aber das zuerst ein klein wenig belustigt, bewundert und dann Frau Kreuzer Frau Studienrat es mitteilte, darüber dann auf beiden Seiten des urkomischen Falles wegen, herzliches Lachen und die Sache war abgetan. Am anderen Tag aber erschien Herr Studienrat in anderer Hose. Herr und Frau Studienrat hatten in Leitershofen Verwandte, nämlich die Familie des pensionierten Oberlehrers Herb. Diese kamen bisweilen am Abend auch herauf und so wurde man auch mit ihnen bekannt.

Da ist vor allem die Gestalt des alten Herrn Oberlehrers Herb, dessen Haupt der Schnee des Alters ziert. Er ist ein eifriger Kartenspieler und was kann man auch in einem Dörfchen an Zerstreuung und Unterhaltung anderes finden, als gerade das Kartenspiel. Ich, der ich Karten nicht spielen kann, unterhielt mich mit ihnen manchmal über Botanik und Geschichte. Mit ihm kam seine Tochter Thea, ein hübsches dunkles Mädchen. Dann noch eine Tochter, wieder ein freundliches schönes Fräulein, die Lehrerin in Leitershofen ist, und dann noch ein Sohn, ein schöner blonder Herr, der, ich glaube Lehrer in Krumbach ist und endlich der jüngste Sohn, der noch studiert. Auch Frau Oberlehrer Herb kam hin und wieder und da saß man lange im Salettle und fröhliches Lachen drang hinaus in die laue Sommernacht. Dieses Salettle spielt hier in Nervenheil eine große Rolle im Sommer. Ist es etwas kühl draußen oder regnet es gar, dann ist es für alle, sowohl bei Tag, als während des Abends, ein Refugium; es ist aber auch schön dort zu sitzen im von wilden Reben umrankten Glashaus und hinauszusehen auf Dorf und Wertachtal und abends aus der Stadt eine Unzahl Lichter herübergrüßen zu sehen.
Ein weiterer Gast, Herr Fackler, mit seiner Cousine, Adelheid Ott, treten auf den Schauplatz. Herr Fackler Peter ist Magistratsbeamter und zur Zeit zur Erholung hier oben und seine Cousine hat ihn heraufbegleitet und war ebenfalls der Ruhe sehr bedürftig. Oft haben wir miteinander Streifen durch den Wald, bald kreuz, bald quer, gemacht, besonders wenn Herrn Facklers Fräulein Schwester zu Besuch bei ihrem Bruder heroben weilte und manch lustig Wort, manch Scherz, flog da hinüber und herüber. Am Abend saß man dann gemütlich beisammen in der freien Luft oder im Salettle und ließ sich köstlich munden, was die Kochkunst von Frau Jettenberger uns auftischte. Da hatten wir manchmal ein lustiges Konzert, das ganz umsonst und lang gegeben wurde, denn drunten in der Niederung, in den Wiesen, da quakten hunderte und aberhunderte von Fröschen bis einem oben im Zimmer beim Schlafen die Augen zufielen. Eines Herrn möchte ich noch Erwähnung tun (heute, wenn ich schreibe, deckt ihn schon der kühle Rasen). Es ist Herr August Müller, ein Kaufmann und einst der letzte Bürgermeister Pfersees vor der Eingemeindung mit der Stadt Augsburg. Er weilte hier oben zu einer Nachkur, die vom Arzt verordnet war, nachdem er eine schwere Erkrankung überstanden hatte. Er fühlte sich recht wohl und wie er sagte, schmeckte ihm auch Essen und Trinken. Kein Mensch dachte, dass nach seinem Abschied von hier oben, ihm nach wenig Wochen schon der grimme Sensenmann holen werde. Gern machte er ganz allein seine Spaziergänge, doch auch die Geselligkeit, wo er sie vorfand, wusste er zu schätzen und manches Geschichtlein, wie das von der künstlichen Schlange und manch ernstes Wort konnten wir von ihm hören. Er war verheiratet, besaß einen Sohn und drei Töchter und führte ein ruhiges schönes Familienleben. Auch er wurde von seinen Angehörigen und seinem Bruder manchmal besucht.
Einer weiteren Gesellschaft hier oben erinnere ich mich, die aber ganz stille für sich lebte und mit der die andern und auch ich selbst (obwohl ich sie schon lange kannte) nicht in Fühlung kamen, denn wie gesagt, an den geselligen Abenden nahmen sie nicht teil, saßen vielmehr abseits, bis die dunkle Nacht auch sie in ihre Zimmer trieb. Es waren zwei verheiratete Brüder mit ihren Frauen und einem Buben und war ihr Name Geiger. Musikalisch waren sie alle, und die ersten Tage, sie hatten ein Klavier heraufgebracht, da hörte man immer darauf spielen, aber nie ein Stück, sondern nur Übungen, was den andern Gästen doch etwas zuviel wurde und sie den Gastwirt davon in Kenntnis setzten. Der legte es ihnen dann nahe, dass auch noch Gäste da wären, die es gerne sehen würden wenn bisweilen Ruhe herrschen würde und von da an war das Klavierspiel verstummt.


Familie Schmidtler (1926)
Nun tritt eine oberbayerische Gesellschaft auf den Plan. Es sind Herr und Frau Schmidtler mit ihrem gegen 4 Jahre alten Bübchen Rudi und die Großmutter namens Hagen. Zuerst von der Großmutter. Oh, sie ist so eine einnehmende, gerade, schlichte Frau, eine Frau noch nach altem Schnitt, eine Matrone mit fast weißem Haar, was ihr in unseren Augen eine gewisse Ehrwürdigkeit verlieh, immer ist sie freundlich, jedem hilft sie, der zu ihr kommt und unermüdlich beschützt und leitet sie ihren lieben Rudi, der aber auch an seiner Großmamma mit kindlicher Liebe hängt. Herr und Frau Schmidtler (er ist Generalagent der Bayerischen Versicherungsbank München) sind schöne, gesunde große Gestalten, Frau Schmidtler mit Gretchenfrisur, die ihr so gut steht. Beide sind überall dabei, wo es ein kleines Vergnügen gibt und machen eifrig mit, wenn man am Waldesrande ein Spiel ausgemacht hat. Oder aber man sitzt gemütlich in den Hängematten, oder liegt auf dem Waldboden, oder aber auf einem mitgenommenen Klappstühlchen, schläft, träumt, raucht und liest bisweilen aus Büchern, die man in die Sommerfrische mitgenommen und da Herr und Frau Schmidtler eifrige Wanderer einst waren und noch sind, so erzählen sie manchmal von ihren Erlebnissen und Burgfahrten und köstlich verrinnen so die Nachmittage, im Schatten des kühlen deutschen Waldes. Noch nie habe ich es erlebt, dass man sich hier oben gestritten hätte in unserer Gesellschaft, jedem aber, der hier länger zum Aufenthalt weilte, wird wohl solch ein Nachmittag und Abend unvergesslich bleiben und lange, lange wenn schon des Alters Last uns drücken wird, werden wir den schönen frohen Stunden dort in Nervenheil gedenken. Den Schluss der Gäste die hier oben gewohnt, machten Herr Kaufmann Weiß aus Pfersee mit seiner verheirateten Tochter namens Mayer und ihrem Bübchen dem Fritz, der ein recht aufgeweckter Junge und äußerst freundlich ist. Den alten Herrn freute es ungemein, wenn seine Tochter überall mittun durfte; sie war so bescheiden und still und gewiss keine Spielverderberin.

Nun habe ich den Reigen aller derer, die das Jahr über hier oben bald längere, bald kürzere Zeit über zugebracht haben, beendet und glaube niemand vergessen zu haben. Jetzt möchte ich noch die anführen, die mehr oder weniger oft heraufkamen und die mir in der Erinnerung, im Gedächtnis, haften blieben.
Was kommen denn da langsam und bedächtig, wie´s nur das Alter fertig bringt, für zwei alte Leutchen herauf? Es ist Herr Senatspräsident Hoffmann und seine Frl. Schwester. Drunten im Dorf haben sie das sogenannte obere Schlösschen in ihrem Besitz. Vom 1. Mai bis nach Allerheiligen sind sie hier in ihrem Schlösschen und kommen jeden Sonn- und Feiertag zum Mittagessen, bisweilen auch an Werktagen, herauf. Einmal luden sie mich ein (oft hatten wir besonders bei schlechtem Wetter, wo sich niemand aus der Stadt heraustraute, miteinander zu Mittag gegessen) ihren Garten und ihr Schlösschen zu besichtigen. Er ist sehr nett angelegt und das Schloss ist altertümlich und als mir dann Frl. Hoffmann droben in ihrem und ihres Herrn Bruders Wohnzimmer Kaffee, Backwerk und Trauben kredenzte, da gewahrte ich mit freudigem Schreck, dass hier die Luft eines fast früheren Jahrhunderts wehte, alles alte Möbel, wie man sie heute nur mehr auf ausdrücklichen Wunsch macht und siehe da, die beiden alten Leutchen in dieser Umgebung, gewannen sie an Ansehen. Herr Hoffmann hat noch einen Bruder und Frau Kreuzer erzählte mir folgendes verbürgtes Geschichtchen über sie, das ihre Mutter erzählt hatte. Der Vater dieser beiden Hoffmann war ein tüchtiger Arzt mit Namen Robert und als er eines Tages zu Familie Kreuzer kam (er war dort Hausarzt) da hatte er die beiden Buben mitgebracht und stellte sie nun in der Familie mit folgenden Worten vor: "Da haben sie die beiden Hoffmanns-Tropfen", worüber natürlich helles Lachen erscholl.

Oft kommt auch der nun in den Ruhestand versetzte Herr Oberlehrer Koch mit seiner Frau Gemahlin, seine Frl. Tochter Maria und Herr Sohn Hans herauf. Sie haben manchmal mitgeholfen den geselligen Kreis zu vergrößern und einer Episode muss ich mich entsinnen, es war im Salettle, an einem Sommerabend, wo Herr Oberlehrer bei einem Gesellschaftsspiel alle Musikinstrumente vormachte und das mit solch einem Eifer, dass ihm nach dem Stück der Schweiß von der Stirne perlte.


Fasching (1929)
Eines Völkchens, eines lustigen, möchte ich hier auch gedenken; es sind das die Turner von Leitershofen, die hier oben, im Sommer im Freien, im Herbst und Winter, in einer Halle ihre Turnübungen haben. Nach dem Turnen setzt dann öfters ein lustig Trinken in der Wirtsstube ein und die sangesfrohen, heiteren Kumpane lassen dann ein Lied ums andere hinauserschallen. Bisweilen veranstaltet ein Verein ein Fest an einem schönen Sommersonntag und dazu ist Nervenheil ein hübscher Patz. Da geht es dann hoch her, die Musik spielt, die Paare drehen sich im Kreise, der edle Gerstensaft fließt in Strömen, Küche und Keller sorgen für des Leibes Atzung und ein netter Blick ist’s für die Zurückgebliebenen, wenn sie sehen, wie sich ein langer Zug von Lampionträgern der Stadt zu bewegt am Abend.

Wieder einmal war ein heißer Sommersonntag angebrochen. Die städtischen Arbeiter hatten ein Fest hier oben ausgemacht. Küche und Keller boten der Abwechslung genug. Musik und sonstige Belustigungen für Groß und Klein sorgten für Unterhaltung und frohe Paare drehten sich nimmermüde am Nachmittag und Abend und so viele Leute waren da, dass Tisch und Stühle nicht mehr ausreichten, so dass viele im Grase lagerten; auch die Maßkrüge waren alle hergegeben und da nahm man alle Gefäße, die man in Küche fand, es war heiß und die Hitze hatte Durst gemacht und der Durst macht viele Fässer leer und des Herrn Gastwirts Säckel voll. Da zog ein Freudenstrahl über das Gesicht desselben, denn solch schöne Tage, die ganz in Harmonie endigten, sind ein selten Geschenk von oben.
Ein andermal hatte sich die „Eintracht“ von Pfersee auf einen Werktagabend im Hochsommer zur Ferienzeit angesagt und zwar zu einer gemütlichen Zusammenkunft. Die „Eintracht“ ist ein Gesangsverein und zahlreich waren Herren und Damen gekommen. Da saß ich damals mit Familie Kreuzer auf dem Balkon und wir hörten dieser Sänger bald lustige, bald übermütig frohe Lieder, hinab ins Tal und hinauf zum sternbesäten Himmel dringen. Dann wurden in den Zwischenpausen Mandolinen und Guitarren laut, es war ein hübsches Bild, all das Treiben zu beobachten. Da, auf einmal, ertönt in all die Freude der Schreckensruf "Feuer, Feuer, es brennt". Und wirklich, neben- an von unserem Balkon, da brannten im Zimmer, wo die jüngeren Töchter der Frau Gastwirtin schliefen, schon die Flammen am Fenstervorhang hinauf. Maja, die eine der Töchter, die das Kerzenlicht ans Fenster gestellt und auch hinabsah zum Treiben unten, hatte den Leuchter unbemerkt zu nahe dem Vorhang gebracht. Von unten stürmten gleich Herren hilfsbereit herauf. Rudi Kreuzer aber hatte gleich den Wassereimer gepackt und war mit seinem Vater hinübergeeilt, der rasch das brennende Zeug niederriss und Rudi begoss und so war rasch der Brand gelöscht. Aber gezittert vor Aufregung hatten wir alle und es brauchte lange, bis man sich beruhigt und dann wieder den Liedern zugehorcht wurde, die unten erklangen. Lampions hingen herum, eine italienische Nacht, nur ungern ging ´s ans Scheiden.

Wollte ich von den Leitershofern, die an Sonntagen, nach sechstägiger Arbeit hier oben auf einige Stunden gemütlich beisammensitzen, trinken, rauchen, kartenspielend, oder auch singend, erzählen, so gäb ´s kein Ende und einer leistet auf diesem, der andere auf jenem Gebiet etwas. Da ist z.B. der Bäckermeister Riegel, ein Mann in den besten Jahren, dem der Wind von aller Welt schon um die Nase gepfiffen, der unter General Waldersee in China gekämpft, der in Singapur und Bombay, kurz in den Tropen gewesen. Es ist ein lustiger Vetter und hat er recht gute Laune, dann lässt er auf seine Kosten, wenn gerade die Turner heroben sind, den immerdurstigen Brüdern einige Humpen Bier kommen. Dort sitzt ein anderer, gewichtiger Mann, er spricht nicht viel, trinkt dafür umso herzhafter und kartet auch gerne; es ist der Metzgermeister Zimmermann. Andere sind wieder da, die sind über eine politische Frage in Erhitzung gekommen, wieder andere haben sich kulinarischen Genüssen zugewandt und die Jungen sprechen von den Dorfschönen; über all das Stimmengewirr in der Wirtsstube lagert Tabak- und Zigarettenrauch und spät am Tag (meine in der Nacht) ja oft erst am Morgen, wenn schon wieder neue Gäste heraufsteigen, ziehen etliche hinab und heimwärts.

Otto Siller über sich selbst


Otto Siller mit seiner geliebten Virginia
Und nun, zum Schlusse, will ich noch versuchen einen Herren zu schildern, der all das obige geschaut und erlebt, fast jeden Sonn- und Feiertag des ganzen Jahres hier oben zugebracht und der diese Stätte lieb und wert gefunden, so dass sie ihm zur zweiten Heimat geworden, denn so ist ihm dieses Fleckchen Erde und Nervenheil mit all seinen Insassen lieb und teuer. Oft war er schon beim Morgengrauen hier heraufgestiegen und hatte dort gelesen, während die Gäste noch alle ruhten, oder bei der Toilette waren. Dann aber hat er mit allen und jedem sich unterhalten können und er glaubt, dass seinetwegen wohl kaum jemand Streit bekommen hat, oder dass er zu Unfrieden und Streit Veranlassung gegeben hat. Es ist ein eigener Mensch, trinkt fast gar kein Bier und wenn ja, dann heißt ´s bei allen gleich in der Runde "Ja was ist's denn mit ihnen, Herr Siller  (so nennt sich nämlich der Mann) trinken Sie auch a Bier, das muss man scho' sich aufschreiben?". Doch eine Tasse Kaffee oder auch Milch verschmäht er nicht. Einen Fehler aber hat er doch (aber welcher Mensch hat gar keinen Fehler) er liebt nämlich leidenschaftlich den Tabak, sei´s  nun Zigarre, Virginia, oder Pfeifentabak; von Zigaretten aber will er nichts wissen, und da er nicht verheiratet, so liebt er diese Sachen wie eine Frau, ja noch stärker, denn damit kann er sich nicht zerkriegen. Gemeinsam ist er mit den Sommerfrischlern schon nach allen Richtungen in Wald herumgekommen, saß mit ihnen an lauen Sommernächten draußen im Garten und es hat ihn immer viel viel Überwindung gekostet, während der Nacht heim zu wandern und dann sechs lange lange Werktage vom lieben, teuren Nervenheil fernab leben zu müssen. Wenn aber der Samstag angebrochen und er nach dem Mittagessen sich besann wohin, dann war eins gegen hundert zu wetten, dass ihn seine Füße nach Nervenheil trugen, um dort den Nachmittag und Abend zu verbringen. Wie lange wohl wird dies noch so fortgehen, er weiß es nicht; doch wenn er einmal nicht mehr kommen sollte, dann wird ein starkes Sehnen nach diesem Fleckchen Erde noch lange lange als schöne Erinnerung in seiner Brust fortglühen, denn alles was hier oben lebt und webt, hat er warm ins Herz geschlossen und wird es nie und nimmer vergessen konnten.

Nachtragen möchte ich noch 3 Inschriften, die der Aufzeichnung nicht unwert sind und die, falls einmal Nervenheil nicht mehr sein, oder in anderer Form bestehen wird, wahrscheinlich dann nicht mehr vorhanden sein werden. Die erste Inschrift, es sind alle auf Tafeln zum Abnehmen angebracht, steht:
"Das ist des deutschen Waldes Kraft,
daß er kein Siechtum leidet
und alles, was gebrechenhaft
aus Leib und Seele scheidet."

Ein schöner Spruch fürwahr auf unseren deutschen Wald, an dem wir so fest, oh so fest hängen. Er, (dieser Spruch) steht über dem Eingang in Nervenheil. In der sogenannten Bauernstube befinden sich die beiden anderen Inschriften. Da fällt unser Auge zuerst auf eine Tafel, auf der sich folgende Worte befinden:
"Gott segne Deinen Eingang, wenn Du Durst hast,
und Deinen Ausgang, wenn Du bezahlt hast."
Und der letzte Spruch lautet:
"Das Auge des Gesetzes wacht, drum lärme nicht um Mitternacht."
Eine Mahnung, die oft befolgt werden sollte, oft aber auch nicht befolgt wird. (Ende)




Zurück
Startseite
Weiter